Indien und zurück.

Auf der Suche nach Geschichte und Spiritualität – Kapitel 3

Die nachfolgenden Tage waren unspektakulär. Faulenzen und versuchen etwas in die Mentalität der Inder einzutauchen. Durch die übermäßige Freundlichkeit der Bevölkerung viel es nicht schwer, schnell in Kontakt zu kommen. Mir war aber auch bewusst, dass ich dieser Art der Ruhe nicht lange folge leisten kann. Viel zu viele in Deutschland entstandene Ideen und Abendteuer schwirrten in meinem Kopf umher und ich wollte diese langsam aber sicher angehen. Ich wollte Land und Leute so kennen lernen, wie sie kein oder selten ein Tourist vorfindet. Arbeiter in Fabriken besuchen und Familien in ihrer armen und aussichtslosen Situation begegnen.
Ben! Er war für mich die richtige Entscheidung für diese Art einzutauchen. Ben war der Taxifahrer, der mich schon auf den ersten Kilometern begleitete und dessen Telefonnummer ich für Notfälle bekommen hatte. Ich habe Amal gebeten Ihn zu kontaktieren und pünktlich stand er und sein Auto dann am nächsten Tag vor der Türe.
Noch vor der “Aufwachmusik” rüttelte mich Amal aus dem Schlaf und meldete, dass mein Fahrer jetzt da sei. Oh ja. Die Vorstellung eines eigenen Chauffeurs gefiel mir gut. Ich flog durch das Bad und die Wohnküche und verließ mit einer halben Banane im Mund das Haus. Ben lächelte und freute sich wohl sehr über diesen merkwürdigen aber auch lukrativen Auftrag. Alle Urlaubsgäste wünschen sich schöne Strände oder Sehenswürdigkeiten zu besuchen – du bist komisch! Du bist crazy, meine er lächelnd. Eigentlich hatte ich Sorge, dass er gar nicht verstand, was ich eigentlich wollte. Aber er enttäuschte mich nicht und wie einer akribisch vorbereiten Agenda folgend arbeitete er mein ihm überlassenes Programm fehlerfrei ab. Ich entschloss mich spontan auf der Rückfahrt sein Engagement für weitere zwei Tage zu verlängern.

Die Fahrt mit der Eisenbahn war eines meiner wichtigsten Abendteuer auf meiner Liste. Übervolle Züge mit Menschen auf den Dächern und atemberaubende Landschaften. Ben hatte schon bei meiner Ankunft und der ersten gemeinsamen Fahrt von mir erfahren, dass dieser innige Wunsch unbedingt erfüllt werden will. So war es für mich nicht verwunderlich, dass dieser herzliche und vorausschauende Mann sich auch darüber Gedanken machte und mir von einem einheimischen und wenig von Touristen besuchen und bekannten heiligen Fest erzählte. Die einzige Bedingung: ich hätte auch seine Kosten der mehrtägigen Reise zu übernehmen. Was ich noch nicht ahnte war, dass dieses Unterfangen für einen Hindu zu den Pflichten des Glaubens gehört, wenn möglich einmal im Leben an die Südspitze Indiens zu reisen um an diesem besonderen Fest teilnehmen zu können. Also so, wie es auch den Moslimen und der heiligen Stadt Mekka bestimmt ist. Diese Reise ist für viele Hindus zu kostspielig und beschwerlich und der Besuch setzt oft ein jahrelanges und diszipliniertes sparen voraus.

Die folgenden vier Tage – voller Erwartungen auf diesen Tag – waren anstrengend. So sehr freute ich mich auf den großen Tag. Meine Reise nach Kanyakumari.

Endlich ging sie Sonne auf und ich war schon früh auf den Beinen. Reisefertig! Noch bevor Amal mich wecken konnte. Schade. Genau heute war Ben unpünktlich. Es dauerte bis er endlich erschien. Wo ist das Auto? Fragte ich erstaunt. Wir fahren nicht mit dem Auto. Zu Fuß, Bus und Bahn. Ja, verstehe. Alles gut. Ich wollte das ja so…
Mit dem Bus ging es in die nächste größere Stadt und danach bestieg ich zum ersten mal im Leben einen indischen Zug. Ein atemberaubendes Gefühl. Die Reise ging zunächst zurück in die Hauptstadt Thiruvananthapuram. Hier hatte er dann unsere Tickets zur weiterfahrt gekauft. Wann geht der Zug? Fragte ich neugierig. In fünf Stunden antwortete er. Fünf Stunden warten? Ja, das ist besser als kein Ticket und kein Platz im Zug – oder? Hier musste ich ihm recht geben und wir nutzten die Zeit für eine kleine Besichtigungstour in dieser unruhigen Stadt.

Zwei Stunden vor Abfahrt gingen wir dann auf den auf dem Ticket notierten Bahnsteig. Hier waren nicht besonders viele Menschen und es dauerte noch eine Weile, bis der Zug einfuhr. Leer. Prima dachte ich. Ben setzte sich auf eine bequeme und mit Plastikleder überzogene Bank in einem leeren Abteil. Die Ventilatoren sausten auf Hochtouren und versuchten die stickige Luft zu vertreiben. Ich zog es vor, mich auf den Boden an der offenen Türe zu setzen. Ein bisschen Abstand von ihm tat mir gut. Der Zug füllte sich schnell. So schnell, dass ich es übersah, den Weg zu Ben in sein Abteil zu finden. Später mochte ich mich nicht mehr durch diese vielen Menschen quälen. Der Zug fuhr los und es dauerte nicht lange als die ersten Passagiere versuchten mit mir in Kontakt zu treten. Ja fast aufdringlich erschien es mir. Jeder in diesem Wagon wollte mich anfassen, berühren, ein Selfie mit mir: dem Mann aus Deutschland.

Die Fahrt dauerte nur wenige Stunden und es fühlte sich gut an dort angekommen zu sein. Ben hatte es eilig in die Stadt zu kommen. Die Suche nach einer Unterkunft hatte für ihn oberste Priorität. Als wir uns dem Zentrum näherten wurde mir bewusst worauf ich mich eingelassen habe. Zu beschreiben oder abzuschätzen wie viele Menschen diesen Ort besuchten war mir nicht möglich. Mit gutem Verhandlungsgeschick und ausreichend Devisen hatte er dann nach einiger Zeit ein Zimmer ergattern können. Wir gönnten uns eine kleine Verschnaufpause und machten uns etwas frisch.
Gegen Abend hin zog es uns dann wieder nach draußen. Das Flendern durch die Stadt war angenehm. Jedoch hatte ich Schwierigkeiten mich der Muße hinzugeben, die dieser Ort verdient gehabt hätte.
Mittlerweile wurde es dunkel. Wir besuchten eine kleine Garage, die zu einem Restaurant umfunktioniert war. Unbeschreiblich das zu sehen, mit welchen Improvisationskünsten hier agiert wurde. Jeder Quadratmeter wurde genutzt um alle Pilger und Besucher irgendwie versorgen zu können. Das Essen und die Getränke waren einheitlich. Jeder bekam das Gleiche auf den Tisch. Niemand hier hatte den Bedarf nach einer umfangreichen Speisekarte. Jeder war froh um die einfache Kost die den Hunger stillte. Eine Ausnahme gab es dann doch. Zu meinem Essen wurde mir ein kleines Schälchen mit gehobelten Zwiebeln serviert. Ben übersetzte mir hinterher, dass der Gastgeber darum gebeten hatte. Ich solle diese kleine Schale mit den rohen Zwiebeln unbedingt essen. Er würde sich sorgen und er sei sich dabei nicht sicher, ob ich alle indischen “Standards” gesundheitlich vertragen würde. Diese Fürsorge hatte mich schwer beeindruckt.
Nach dem Essen liefen wir zum Wasser hinunter, über den Markt, an den vielen Buden und Ständen vorbei. Vorbei an den vielen kleinen Grüppchen, die sich zum Gebet versammelt hatten. Überall der Geruch von Räucherstäbchen, Süßigkeiten, Feuer und der, der vielen tausend Menschen.

Ben mahnte, jetzt bald ins Bett zu gehen. Morgen müssten wir ja früh raus um das große Ereignis – den Sonnenaufgang und die Zeremonie auf der Insel zu erleben.