Indien und zurück.

Kanyakumari – Kapitel 4

Kanyakumari, die südlichste Spitze Indiens. Ein magischer Ort. Ein Ort an dem drei Weltmeere ineinander verschmelzen. Der Indische Ozean, der Golf von Bengalen und das Arabische Meer werden eins. Die gewaltigen Kräfte der Natur treffen hier sichtbar aufeinander und sortieren sich neu. Deutlich zu erkennen sind die farblichen Unterschiede der einzelnen Gewässer. Türkis, Blaugrün und Azurblau. Wie in einem großen Topf mischt sich die Farbe neu.
Ein riesiger Felsen ragt aus dem Wasser. Nur mit einer Fähre zu erreichen – das berühmte Vivekananda Rock Memorial. Es wurde im Jahr 1970 zu Ehren von Swami Vivekananda erbaut, der auf diesem Felsen durch Meditation die Erleuchtung erlangt haben soll. Die Hindus glauben, dass die Göttin Kanya Kumari eine jungfräuliche Inkarnation der Göttin Parvati ist die den Felsen segnete indem sie ihn mit ihren Füßen berührte.

Um halb drei war es wieder Zeit aufzustehen. Das war eine kurze Nacht. Aufstehen! Beeilung! Rief Ben. Schnell! Aufgewühlt und müde hetzte ich ins Bad und zog mich an. Ein bisschen Haare – los geht’s.
Lass deine Schuhe hier! Sagte Ben. ‘
Ohne Schuhe? Barfuß? Fragte ich.
Ja! Du brauchst hier keine Schuhe!
Ich habe europäische Füße erwiderte ich betont.
Ich weiß, meinte Ben. Es wird dir nichts passieren. Vertrau mir. Trust me! Wiederholte er mehrmals wie in einem Mantra.
Verbinde dich mit dem Boden, der Erde und den anderen Menschen!
Ein Gedanke der mir viel Mut abverlangte. Verknüpft mit der Vorstellung ich müsse mit nackten Füßen über das Münchner Oktoberfest laufen löste wieder Unbehagen und Angst in mir aus.
Dennoch fühlte ich: es war an der Zeit zu vertrauen.

Nachdem wir in der Stadt eine Tasse Tee zu uns genommen hatten, ein paar Kekse, war ich davon überzeugt, die Richtung zum Meer wäre richtig. Ben belehrte mich eines besseren. Hier Entlang. Die Schlange zur Fähre beginnt dort drüben! Wartezeit über einen Kilometer! Es war erstaunlich zu sehen wie diszipliniert und schnell sich die Schlange bewegte. Niemand drängelte sich vor und niemand scherte ein. Jede Person ein Teil davon. Nicht nebeneinander sondern hintereinander. Es dauerte etwa ein Stunde, bis wir die Fähre erreichten. Zwei dieser Schiffe waren in betrieb und kreuzten sich fast mittig in der kurzen Distanz von etwa zweihundert Metern. Wir waren an der Reihe. Schwimmwesten an! Jeder! Die Fähre legte ab und begab sich in Richtung des Memorials. Die Natur begrüßte uns stürmisch. In dieser kleinen Distanz zwischen Festland und Insel waren so starke Kräfte zu spüren. Meterhohe Wellen wie ich es nicht vermutet hätte. Durchgenässt von der Gischt und ein bisschen flau im Magen verließen wir das Schiff mit den anderen Passagieren. Je näher wir dann dem Memorial kamen, desto ruhiger wurde es. Fast still und untypisch für indische Verhältnisse. Man merkte die Ehrfurcht der Menschen eingehüllt in tiefem Glauben in einer gewaltigen Ordnung. Familien die in ganzen Generationen verweilten, Pärchen, alt und jung. Diese Magie war überall. Es war an der Zeit sich einen Platz zu suchen für das Ereignis, das so viele Menschen hier vereinte: der Sonnenaufgang.
Der Feuerball, der Leben auf diesem Planeten erst möglich macht, stieg aus dem Wasser empor und flutete das Land mit Licht und Wärme.

Im Anschluss besuchte ich noch das Dhyana Mandapam – die Meditationshalle – angeschlossen an den Tempel. Diese war auch für mich zugänglich. Hier ist es möglich zu entspannen und zu meditieren so lange man möchte. Es gibt an diesem Ort kaum eine andere Erfahrung, die so beruhigend ist wie diese.